Wo ich herkomme . . .

Wo ich herkomme . . .

Neulich saß ich mit Teilen der Familie zusammen und wir sprachen auch über mein Projekt: „Erzähl von früher“.
Bei dieser Gelegenheit kamen natürlich auch Gedanken zur Lebensgeschichte meiner Eltern hoch – zumindest das, was ich davon weiß.

Irgendwie müsste man (also ich) das doch aufschreiben, damit es zum Einen nicht in Vergessenheit gerät und zum Anderen irgendwann von den nächsten Generationen gelesen werden kann, sofern sie daran Interesse haben.

Herkunft:

Da schauen wir doch mal bei Wikipedia vorbei und stellen eine Vielzahl von Begriffsdeutungen fest. Die für mich zutreffendsten sind zum Einen die „Abstammung“, zum Anderen die „Soziale Herkunft“.

Nach meiner Weltsicht ist die genetische, also durch biologische Vererbung stattgefundene Herkunft, immer nur ein kleiner Teil der Ausprägungen einer Person, den weitaus größeren Anteil hat die soziale Herkunft im marxistischen Sinne, also des Klassenursprungs. Wobei ich einräumen muss und das gilt auch für mich, dass Klassenaufstiege (besser: Schichtenaufstiege [Dahrendorf]) möglich und notwendig sind. Natürlich ist auch das Gegenteil nicht nur denkbar sondern auch wahrscheinlich.

Die Herkunftsfamilie und das soziale Umfeld während Deiner Prägephasen (frühkindlich, pubertär, gesellschaftsintegrativ) helfen Dir dabei, das zu werden, was Du irgendwann einmal sein wirst. In der heutigen Kommunikationswissenschaft wird häufig von der Filterblase (filter bubble) gesprochen und meint damit die (Selbst-)Beschränkung der Wahrnehmung auf die selbst gewählten Ausschnitte aus der Wirklichkeit. Gleiches gilt eingeschränkt auch für mein Umfeld in meiner Persönlichkeitsentwicklung. Natürlich folge ich lieber den Zielen, die einfacher oder (nicht unbedingt finanziell) lukrativer für mich sind. Selbstbestätigung ist immer noch der beliebteste  Lehrmeister.

Vieles von dem ist somit in meiner Herkunft angelegt, Ausbrüche daraus muss ich mühevoll selbst in die Hand nehmen.

Meine Eltern haben davon einiges erfahren und auch bewirkt. In wieweit ich ihnen mit der Schilderung der mir noch bekannten Geschichten gerecht werden kann, weiß ich nicht. Natürlich bemühe ich mich, einen liebevoll neutralen Standpunkt einzunehmen. Andere – insbesondere Zeitgenossen – haben sicher eine andere Sichtweise, aber davon gibt es leider niemanden mehr der noch lebt.

Natürlich könnte man einwenden, dass ich dieses bereits zu Lebzeiten meiner Eltern hätte beginnen können. Stimmt, aber offensichtlich bin ich erst im Abstand von mehreren Jahre zum Ableben meiner Eltern in der Lage – mehr oder weniger neutral – über sie zu berichten.

Meine Mutter

Ich nenne sie zuerst, weil sie immer – nicht nur aus heutiger Sicht – der für mich wichtigste Elternteil ist. Die Person, die aus mir das gemacht hat, was ich bin oder was ich gerade nicht bin.

Maria Elisabeth Brügger wurde am 24. November 1923 in Gelsenkirchen geboren.

Ihre Eltern waren NNN Brügger, über den ich absolut nichts weiß und der in den Erzählungen mehr oder weniger totgeschwiegen wurde und Sophia Maria Brügger, geb. Hellenkemper, geb. 13.7.1895, meiner liebsten Oma. Er war Gastwirt in Gelsenkirchen, sie Hausfrau und beide heirateten etwa 1919. Im Jahre 1939 ließen sich beide scheiden (. . . das gehört offensichtlich zur „Familientradition“ meiner Familie, aber davon später mehr).  Als Grund habe ich sein häufiges Betrunkensein (Alkoholismus? Berufskrankheit?) und damit im Zusammenhang stehendes Verprügeln seiner Frau und auch der einzigen Tochter vermittelt bekommen. Ob er den Krieg überlebt hat ist mir ebenfalls nicht bekannt. Oma starb am 20. 7 1976 in Hamburg.

Die Kindheit und frühe Jugend meiner Mutter war offensichtlich unbeschwert, ganz im Gegensatz zur damaligen Zeit. Während Ihrer Geburt ist im Nachbarhaus eine Bombe explodiert (Ruhrkämpfe). Eine Zimmerbrand in der Vorweihnachtszeit hätte fast ihr Leben gekostet. Sie war mit ihrer Kusine Marianne allein im Wohnzimmer. Auf der Fensterbank brannten Kerzen. Beide Mädchen wollten aus dem Fenster sehen. Dabei kam die Gardine mit den Kerzen in Kontakt und fing Feuer. Dieses wurde glücklicherweise schnell bemerkt und die Kinder gerettet. Inwieweit das Feuer auf das Zimmer übergriff oder der Brand in der Erinnerung größer wurde, ist mir nicht bekannt.

Ein wesentlicher Ankerpunkt meiner Mutter war die Herkunftsfamilie ihrer Mutter in Ahlen. Da Oma sieben Geschwister hatte, wurde Ahlen Zentrum von sehr häufigen Besuchen. Die Volksschulzeit endete für sie 1938.

Die Wirren der Trennung der Eltern und der Umzug ihrer Mutter mit ihrem Freund Paul Heining (1900-1956) nach Poppenbüttel, einem hamburger Stadtteil, der gerade erst (Groß-Hamburg-Gesetz von 1938) Teil der Hansestadt geworden war. folgte als nächstes. Sehr nett war immer anzuhören, dass „Opa“ (meine einziger und echter!), zu vorsichtig war, um sein gesamtes Erspartes in ein Grundstück zu investieren. Anstelle eines großen Grundstücks, die Fläche auf der sich heute die Poppenbütteler Marktkirche befindet, erwarb er ein Grundstück am Glashütter Weg 36 (heute Harksheider Straße 190). Dieses war sehr weit draußen und nur über unbefestigte Straßen zu erreichen. Der Glashütter Weg war damals ein Sandweg mit entsprechenden Auswaschungen (Kuhlen). Aber offensichtlich waren alle Beteiligten mit der Situation glücklich, so auch meine Mutter, auch wenn der Weg „ins Dorf“ (=Poppenbüttel Zentrum um den Kreuzungsbereich Glashütter Straße und Poppenbüttler Hauptstraße, rd. 2 km) beschwerlich, der Weg zu S-Bahn (knapp 4 km) lang war.

Das Haus bestand aus im unteren Bereich aus einer Küche und einem Raum, der unterkellert war. Eine Treppe führte ins Obergeschoss mit Schlaf- und Wohnzimmer. Das Grundstück war mit 800 qm groß genug, um für eine ausreichende Versorgung mit Kartoffeln, Gemüse und Obst (es gab über 30 Obstbäume) zu sorgen. Das Wasser wurde über eine elektrische (!) Pumpe aus 15 m Tiefe gefördert, Die Toilette führte in einen Sammelbehälter und wenn ich es richtig erinnere, gab es für die Spülung nur einen Eimer mit Wasser. Wenn der Behälter voll war, kippte Opa die „reife“ Brühe in den Garten und düngte damit die Pflanzen. Na gut, Gülle ist auch nichts anderes . . .

1952 baute Opa eine Backstube und einen Verkaufsladen an, aber soweit sind wir noch nicht.

Mama machte eine Lehre zur Friseurin, die sie erfolgreich abschloss. Anschließend musste sie für ein Jahr zum Reichsarbeitsdienst, der ab 1939 für alle Frauen obligatorisch war. Sie war zunächst auf einem Gut in Mecklenburg eingesetzt, später fuhr sie in Rostock Straßenbahn. Über die Behandlung durch die Bauern hatte sie wenig positives zu berichten. Das war wohl der bekannte Hass der Bauern auf die Stadtkinder.

Nach der Rückkehr vom RAD (1940/42?) wollte sie auf keinen Fall in die Rüstungsproduktion, die seinerzeit überwiegend Frauen und Kriegsgefangene beschäftigte. Daher entschloss sie sich, eine Lehre zur Krankenschwester zu beginnen, die sie mit dem Staatsexamen abschloss. Sie hatte das Glück, die Ausbildung in UKE absolvieren zu können. Dieses war bereits seinerzeit ein Spitzenkrankenhaus im norddeutschen Bereich. Nach einem Bombenangriff brannte das Affenhaus aus, bei dem fast alle Affen umkamen. Als sie das einmal mir als 6 jährigem erzählte – wir besuchten irgendjemanden dort – war ich traurig und verwirrt. Mir war damals überhaupt nicht klar, dass natürlich auch Menschen bei den Bombenangriffen umkamen.

Nach dem Krieg arbeitete sie weiterhin im UKE, das jetzt unter britischer Verwaltung stand. Meine Eltern waren nie in der NSDAP und konnten daher relativ schnell durch das Entnazifizierungsverfahren kommen. Über die Qualität dieses Verfahrens will ich jetzt lieber nicht berichten müssen, sonst kommt vielen die Galle hoch.

Neben vielen Kriegsverletzten pflegte sie auch „normale“ Bürger. Einer von ihnen hatte sich die Leiste gezerrt . . .

 

Mein Vater

Erich Hellmuth Tietjens wurde am 24. April 1923 in  Hamburg geboren.

Seine Eltern waren Max Franz Carl Tietjens, von dem ich keine Daten habe und Elfriede Tietjens, geb. Zöhrens, geb. 1.3.1904 (sie behauptete jahrelang, dass sie am 29.2.1904 geboren sei und somit nur alle 4 Jahre ein Jahr älter würde). Sie hatten noch eine Tochter Hannelore, die etwa 1921 geboren war.

Oma Elli starb 1980, wenige Jahre vor ihrer Tochter.

Kurz nach Vaters Geburt trennten sich die Eltern und ließen sich scheiden (Tradition?). Hannelore blieb bei der Mutter, Erich kam zu einer Pflegefamilie. Seine Mutter lernte einen neuen Mann kennen, Willy Möller (xxxx – 1960). Er natürlich Gastwirt (das ist wirklich Tradition in unserer Familie) führte eine Gastwirtschaft in der Fuhlsbütteler Straße „Möllers Bierstuben“. Ein Nachbarskind sah zufälligerweise meinen Vater in einer Straße spielen und berichtete meinem anderen Opa davon. Er entschied sofort, dass Erich natürlich bei ihnen leben sollte und nicht mehr in der Pflegefamilie. Hiervon hat mein Vater erst sehr viel später im hohen Alter erfahren.

So besonders klug (im Sinne von Schulbildung) war mein Vater nicht, konnte sich aber sehr gut Wissen (nicht unbedingt Schulwissen) aneignen und anwenden. So war er an Elektrizität sehr interessiert und schaltete die Klingelanlage in dem Wohnblock so zusammen, dass beim Drücken alle Klingeln gleichzeitig ertönten. Das muss für ihn ein Heidenspass gewesen sein, zumal sein Vater (für ihn war er das) kaum schimpfte und immer nett und freundlich war.

Als er mit 14 aus der Schule kam, wollte er ins Hotelfach. Das Beste war gerade gut genug und somit wollte er zum Vierjahreszeiten. Allerdings war er beim Bewerbungsgespräch noch sehr klein und es drohte alles daran zu scheitern. Erich versprach bis zum Lehrbeginn noch deutlich zu wachsen, was ihm tatsächlich gelang. Zunächst begann er als Page, bevor ein Jahr später die Ausbildung zum Kellner begann. Diese schloss er erfolgreich ab und verband die Ausbildung auch noch mit der Lehre zum Barmixer.

Anschließend plante er auf die Hotelfachschule zu gehen, was Volksschülern mit abgeschlossener Lehre möglich war. Allerdings schreiben wir das jahr 1940 und auch er musste für ein Jahr zum Reichsarbeitsdienst. Daran anschließend wurde er einberufen und wurde als Scharfschütze ausgebildet. Eingesetzt war er ausschließlich an der Ostfront. Ein Beschuss eigener Artillerie tötete alle aus seiner Gruppe, nur er wurde schwer verletzt und hatte mit Glück die „Behandlung“ in den Feldlazaretten überlebt. Zum Ende des Krieges schlug er sich mit seinen Kameraden zu den Amerikanern durch und ließ sich dort gefangen nehmen.

Mit vielen tausend anderen befand er sich im Bereich Darmstadt und baute mit ihnen die Kriegsgefangenenlager auf. Viele starben an Unterernährung, Ruhr und Verletzungsfolgen. Erich hatte Glück, dass er – ohne das gelernt zu haben – ein paar Brocken Englisch sprach. Dieses und seine Barmixer-Erfahrung führte dazu, dass er schnell im amerikanischen Casino arbeiten konnte. Dort verbesserte er seine Kenntnisse in der Organisation von Dingen aller Art. Bereits nach nur einem Jahr wurde er aus der Kriegsgefangenschaft entlassen und konnte nach Hamburg zurückkehren.

Das Hamburg, das er kannte, gab es nicht mehr. Überall Trümmer und Berge von Schutt. Seine Eltern hatten sich in der Zwischenzeit getrennt. Seine Mutter betrieb eine Kneipe in Eppendorf, sein Vater versuchte, ein Theater aufzumachen. Da dieser auch in der Entnazifizierungskommission saß, bekam er häufig mit, wie ehemalige Nazis ruckzuck freigesprochen wurden. Dieses erboste ihn so sehr, dass er seinen Posten unter Protest niederlegte.

Eine Gastwirtschaft betrieb er dann noch viele Jahre in der von-Essen-Straße. Er starb 1960.

Erich machte sich auf, die Vorteile der Nachkriegszeit kennenzulernen. Er arbeitete bei der Kohlenlieferung; aus einem Zentner wurde schnell ein „Hamburger Zentner“ (80 Pfd.); am nächsten Tag wurde mit dem selben Fahrzeug Butter ausgeliefert. Es blieb immer was hängen, so dass er schnell alle Tricks des Schwarzmarktgeschäftes lernte und anwendete. Bis 1948 war er der King, der mit dicken Geldbündeln rumlief. Allerdings machte seine Gesundheit nicht immer mit. Magenprobleme und – beim Sprung aus einem Fenster – ein Leistenbruch brachten ihn ins Krankenhaus, richtig: ins UKE.

Der King flirtete natürlich mit allen jüngeren Schwestern. Eine ließ sich aber nicht so einfach rumkriegen: heiraten oder nein, war ihre Devise. Na gut, dann heiraten wir.

Beide zusammen

Am 4. Juni 1948 heirateten Liesel und Erich in Eppendorf auf dem Standesamt. Trauzeugen waren mein Opa Paul und der neue Mann von Oma Elli.

Eine Wohnung hatte die beiden in Hamburg im Keller eines Hauses gefunden. Es war wohl mehr ein Loch als eine Wohnung, aber inmitten von Hamburg gab es wenig nutzbaren Wohnraum. Man musste nehmen, was es gab.

Erich arbeitete wieder als Kellner in diversen Läden und Liesel. . .? Die britische Verwaltung hatte festgelegt, dass in Krankenhäusern nur unverheiratetes Pflegepersonal arbeiten durfte. Die Heirat führte somit praktisch zum Berufsverbot für Schwester Liesel. Nun gut, sie wurde recht schnell schwanger und brachte am 7. März 1949 einen gesunden 7-Pfünder zu Welt. Die dicken Geldbündel meines Vater gehörten der Vergangenheit an, da gut 14 Tage nach der Heirat, am 20. Juni 1948 die Währungsreform in Kraft trat und (fast) alle mit ganz wenig, jetzt DM, anfingen.

Kaum hatte Opa Paul gehört, dass seine (Stief-)Tochter schwanger war, entschied er: „Ihr kommt da aus dem feuchten Loch raus, wir schaffen schon Platz.“ So groß war das Haus in Poppenbüttel wirklich nicht, aber irgendwie konnten noch Betten reingestellt und es konnte gelebt werden. Als am 6. März die Wehen einsetzten, gab es keine Möglichkeit ein Taxi zu bekommen. Hamburg hatte nach einem milden Februar noch einen Wintereinbruch mit viel Schnee bekommen. Und so stapften Liesel und Erich durch den hohen Schnee bis zum Bahnhof Poppenbüttel. Die Fahrt bis zum Bethanien-Krankenhaus muss im Vergleich zum Fußmarsch erholsam gewesen sein, obwohl, eine Schwangere in den Wehen . . .? Wie damals üblich, wurde der künftige Vater freundlich, aber bestimmt gebeten, den Kreißsaal zu verlassen und am nächsten Tag wiederzukommen.

Auf jeden Fall war ich am nächsten Tag da und machte, was ich am besten konnten: die Station zusammenschreien. „Ah, Tietjens, der hat aber eine kräftige Stimme.“

Nach etwa einer Woche ging’s zurück nach Poppenbüttel.

Die nächsten zwei Jahre blieben wir dort wohnen. Am 1.4. 1952 zogen wir dann zum Dulsberg –> Hier sind meine Kindheitserinnerungen

Seefahrt und Laden

Die berufliche Situation eines Kellners war in den 50er-Jahren nicht so prickelnd, die ursprünglich geplante Ausbildung auf einer Hotelfachschule hätte zu keinem Einkommen geführt und das mit einer nicht (mehr) berufstätigen Frau und einem Kind? Undenkbar für das Verantwortungsbewusstseins meines Vater für die Familie. Eine Eigenschaft, die ich sehr dankbar übernommen habe.

Seine nächste Handlungsmaxime „man muss immer etwas neues beginnen“ ist bei mir nicht in dem Maße ausgeprägt, obwohl ich in privater und auch beruflicher Hinsicht einige Neuanfänge hatte.

Auf jeden Fall hörte er von einem Arbeitskollegen, dass es bei der HAPAG Stellen als Steward zu besetzen gab. Dieser bewarb sich dort und wurde auch genommen. Mein Vater bewarb sich bei einer amerikanischen Reederei, die einen Chiefsteward suchten. Während es sich auf deutschen Schiffen eher um Servicepersonal handelte (bessere – auf jeden Fall besser bezahlte – Kellner), war auf dem amerikanischen Schiff der Chiefsteward eine Kombination aus diversen deutschen Tätigkeiten: Proviantmeister (verantwortlich für den gesamten Einkauf für die entsprechende Reise), Küchenmeister (und damit Vorgesetzter der Köche) und natürlich Vorgesetzter des Bedienpersonals. Ehrlich? Ich hätte es wohl nicht gemacht. Aber Erich sagte, er könne das alles (obwohl ihm bei der ersten Fahrt wohl eher schlecht wurde bei der nennen wir es: Übertreibung). An Bord der „Florida“ waren in der Schiffsführung (Kapitän, Offiziere und Koch) deutsches Personal, was ihm sicherlich in der ersten Zeit sehr zupass kam. Seine Beziehung zu Käptn Keppler war legendär.

Das Schiff, ein Stückgut- und Massengutfrachter, war fast nie im Hamburger Hafen, sondern fuhr in Europa idR Rotterdam an. Ansonsten waren sie zwischen Afrika, Venezuela und den Vereinigten Staaten im Einsatz. Als ich etwa 7 Jahre alt war, fuhren Mama und ich nach Rotterdam (ich bekam extra zwei Tage schulfrei). Eine lange Bahnfahrt war es. Wir trafen dann im Seemannsheim Ehefrauen anderer Besatzungsmitglieder. Als wir endlich an Bord durften, war es ein riesiges Schiff mit eine sehr hohen Bordwand, die wir über die Gangway bewältigten. Das Schiff lag auf Reede und nicht an einem Kai. Dorthin wurde es erst am nächsten Tag verholt. Die Aufregung führte bei mir dazu, dass ich mich übergeben und mal wieder die Bettwäsche gewechselt werden musste. Na ja, ich und mein Magen.

Alles war toll und riesig und Papa und Mama waren da. Mir gefiel es sehr gut, allerdings Abschied nehmen am übernächsten Tag war nicht so toll. Ich kann mich noch gut erinnern, wie der Weizen mit riesigen Saugrüsseln aus den Laderäumen gelöscht wurde und dass der Maschinenraum über mehrere Stockwerke ging.

Von den Afrikatouren brachte er mir neben einer Trommel – die jetzt nicht mehr existiert – noch einen Kopf und Elefanten aus Ebenholz mit. Der Kopf hatte noch in späteren Jahren mindestens bei einer Tochter Angst erzeugt.

Nach 5 Jahren hatte Mama die Nase voll und Papa kam zurück und arbeitete dann wieder als Kellner.

Das Ziel, ein Lebensmittelgeschäft in Poppenbüttel zu eröffnen, wurde immer konkreter. Parallel musste das Haus in Poppenbüttel umgebaut werden.

Die Backstube und der Laden wurden aufgestockt, die Treppe nach oben verlegt und seitlich ein Wohnzimmer angebaut. Ich durfte dabei mithelfen. Der alte Backstubenschornstein musste es mit meinen Stemmkenntnissen aufnehmen und er verlor – ich gewann dafür Erfahrung und viele blaue Flecke an der Hand.

Da die finanzielle Situation meiner Eltern mehr als angespannt war, versuchten sie soviel wie möglich einzusparen. Dazu gehörte auch das Heizmaterial. Also musste jeden Abend Holz (aus dem Flachdach des Backstuben/Laden-Anbaus) gesägt werden. Dieses kam in einen alten Seesack und wurde dann am nächsten Tag verfeuert. Schließlich begannen die Umbauarbeiten am 1. Oktober 1961 und endeten im Frühjahr 1962. Ende März wurde unser EDEKA-Laden dann endlich eröffnet.

Damit hatte Mama auch wieder eine Berufstätigkeit als „Frau Kaufmann“. Dieses erfüllte sie mehrere Jahre und auch mir brachte es Spaß, im Laden zu helfen. Allerdings hieß es auch, kein Urlaub, jeden Tag von 7 – 18:30, Sonnabends bis 14:00. Damals gab es noch das Ladenschlussgesetz. Und nach 18:30 Uhr? Da klingelten dann die Kunden an der Haustür: “ Hätten Sie vielleicht noch . . .?“ Der tatsächliche Feierabend war dann viel später.

In den späten 60er Jahren begannen in Hamburg einige Konzerne in der Innenstadt Lebensmittelmärkte zu eröffnen (Kaufhof, Horten, später auch Karstadt). Meine Eltern erkannten schnell die Zeichen der Zeit und entschlossen sich, den Laden nach nur 7 Jahren wieder zu schließen. Es gab viel Kopfschütteln bei den anderen Kollegen in Poppenbüttel, aber von denen existiert jetzt auch kein Laden mehr. Schließlich gab es ab 1970 auch noch das Alstertaleinkaufszentrum (AEZ), das weitere Kaufkraft von den lokalen Geschäften abschöpfte. Wenn ich den richtigen Überblick habe, gibt es jetzt nur noch am Poppenbütteler Markt ein Lebensmittelgeschäft. Damals, neben unserem, im Kupferteichweg (Kaffeegeschäft mit Lebensmittel), Moorblick (besserer Stubenladen), PRO am Heimgarten, am Rehmbrook und der Rehderkoppel gab es weitere Läden und natürlich am Poppenbütteler Markt (damals EDEKA Mehlfort).

So, Laden dicht und nun?

Hotel, Altersheim, Casino

Aus der Bekanntschaft von Oma Elli war zu hören, dass für das „Restaurant zu Oper“ (Dammtorstraße/Ecke Kleine Theaterstraße; das Gebäude existiert heute nicht mehr) ein Restaurantleiter  gesucht. Da das Einkommen nicht so riesig war, vereinbarte Papa, dass auch Mama dort arbeiten konnte. Einige Jahre ging es sehr gut, später sollte auch noch die Verantwortung für das Hotel dazu kommen. Nach einigen Jahre mit geringen Einkommen hatte Mama dann doch die Faxen dicke und besann sich auf ihre Ausbildung als Krankenschwester.

Neben Angeboten von der Augenklinik des UKE gab es die Möglichkeit im „Hospital zum Heiligen Geist“ in Poppenbüttel zu arbeiten. Zunächst als Krankenschwester, später als Stationsleitung. Aus meiner Sicht, der sich mit Pflegeberufen nur sehr von außen beschäftigt hat, eine sehr schwere und verantwortungsvolle Tätigkeit. Jeder Bewohner des Altenheims konnte sicher sein, dass er dort bis zu seinem Tode gepflegt wurde. Die Pflege erschien mir immer sehr verantwortungsvoll, ganz im Gegensatz zum Verhalten von einigen (vielen?) Angehörigen, die viel zu selten zu Besuch kamen und wenn, dann sich noch die mitgebrachten Geschenke vom Taschengeld ihrer Eltern bezahlen ließen.

Die Erfahrung, die ich durch meine Mutter vermittelt bekam, brachte mich zu der Auffassung, dass ich auf keinen Fall (soweit ich es beeinflussen kann) meine Eltern allein in einem Altersheim zurücklassen wollte.

Die Arbeit dort war auch körperlich sehr anstrengend: nicht mithelfende Patienten umzubetten ist eine schwere Aufgabe, gerade auch für die 1,56 m meiner Mutter. Aber sie schaffte es immer und war frohen Mutes, wenngleich einige Patienten ihr unter den Fingern wegstarben – zumeist diejenigen, die sie am meisten lieb gewonnen hatte.

Während Mama also in ihrem Beruf wieder Karriere machte, musste Vati mitbekommen, dass geplant war, das Gebäude, in dem sich Restaurant und Hotel befanden, aufgrund von Baumängeln (oder mangelnder teurerer Vermietbarkeit!) abzureißen. Damit war auch wieder seine berufliche Zukunft gefährdet.

Na gut, dachte er, machen wir was anderes. Die Landeszentralbank in Hamburg suchte einen Pförtner, er bewarb sich und wurde es.

Kurze Zeit später bekam ein Personalverantwortlicher seine Akte auf den Tisch und bemerkte seine bisherige Berufstätigkeit. Der Leiter des Casinos ging in Rente und ein Nachfolger wurde gesucht: nicht schwer zu raten, wer es wurde.

Nun war er wieder für den Lebensmitteleinkauf, den Service und die Gestaltung der Speisen verantwortlich, etwa was er aus der Seefahrt noch kannte. Und er war in besonders hohem Maße zufrieden mit seiner Tätigkeit. Dieses sollte auch seine letzte berufliche Tätigkeit sein. Mit 63 Jahren ging er 1986 in Rente.

Dass es in so einer Ehe auch mal kriselt, ist klar und hier nicht berichtenswert. Die Beteiligten leben nicht mehr und die Betroffenen haben inzwischen andere Sorgen.

Auch Mama ging im gleichen Jahr in Rente, so dass beide ihre ersten Enkelkinder „begöschen“ konnten.

Über die Liebe meiner Eltern (zumindestens) zu ihren ersten beiden Enkeln will ich hier nur wenig berichten. Sie ist legendär und sie bewiesen da, was es bedeutet als Großeltern für die Enkel da zu sein. Ein wenig stach mich diese Erkenntnis, da die Verbindung von meinem Vater und mir nicht gerade von Harmonie geprägt war. Da er die ersten 10 Lebensjahre sich nicht um seinen Sohn gekümmert hat (Nachtarbeit, Seefahrt), war er für mich zwar kein Fremder, aber niemand, von dem ich auch ein Teil war. Klar, Eifersucht war auch im Spiel, wahrscheinlich von beiden Seiten. Nun gut, das ist lange vorbei und er hat bei seinem Enkelsohn offensichtlich vieles nachgeholt, was er davor nicht geschafft hat (schaffen konnte). Über die Großeltern sollten vielleicht die Enkelkinder berichten, wie sie sie erlebt haben. Die sehr berührende Abschiedsrede meines Sohnes auf der Beerdigung seines Opas habe ich immer noch in Erinnerung . . .

Die Beziehung zum dritten Enkel (und auch zu meiner zweiten Frau) war auf jeden Fall von Seiten meines Vaters sehr distanziert. Mama konnte sich dagegen auch nicht immer auflehnen, war aber eine liebevolle Oma auch ihrem jüngsten Enkelkind gegenüber.

Das Letzte

Leider verschlechterten sich in den frühen 2000er Jahren die gesundheitlichen Umstände, genau in einer Zeit, in der die Beziehung zum einzigen Sohn etwas kritisch war. Anfang Januar 2004 verstarb meine liebste Mutter, mein Vater, der noch mal kurz ein spätes Glück fand, folgte ihr im September 2006.

Was mir bleibt, ist die aufopfernde Liebe meiner Mutter, die immer alles zugunsten ihres Sohnes zurückgestellt hatte: Wenn es zuwenig zu essen gab, verzichtete sie bereitwillig, den letzten Pudding bekam ich ebenso, wie den letzten Pfannkuchen. Dieses habe ich gern in mein eigenes Leben übernommen und versucht, es meinen Kindern zu vermitteln. Das ist mir größtenteils auch gelungen, obwohl es Widerstände zumindest bei meinem ersten Partner gab. Obwohl sie aktiv nie in der Kirche gearbeitet hat, vermittelte sie mir christliche Lebenswerte wie Nächstenliebe sowie Hilfe und Unterstützung für andere, schwächere Personen.

Von meinem Vater habe ich mein manchmal vorlautes Mundwerk, meine Träumereien und gelegentlichen Spinnereien mitbekommen. Was mir von ihm fehlt – was ich also gut gefunden hätte, wenn ich es gekonnt hätte – sind seine Zielstrebigkeit und der Wunsch, es auch sofort umzusetzen, ohne die Risiken zu scheuen.

Hier hat mich sehr viel mehr der Wunsch nach Sicherheit für mich und vor allem für diejenigen, die von mir abhängig sind (Kinder, Familie) geleitet.

Mmh, ich weiß jetzt nicht genau, was daran falsch sein sollte, aber so ein wenig mehr Risikobereitschaft hätte mir wahrscheinlich auch sehr gut getan. Es ist nun mal, wie es ist. Und die letzten Jahre werde ich daran nichts mehr ändern, da ich es immer noch für richtig und auch erstrebenswert halte.

Im März 2017